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Was ist ein sanftes Lebensende, Frau Becker?

INTERVIEW VON SUSANNE KRIEG UND ARIEL HAUPTMEIER

Geo Magazin 2015

Wenn Heilung nicht mehr möglich ist, kommt die Ärztin Gerhild Becker zum Einsatz. Die Professorin, Jahrgang 1962, ist Ärztliche Direktorin der Palliativmedizin am Universitätsklinikum in Freiburg, seit 2012 zudem Lehrstuhlinhaberin für Palliativmedizin. Neben ihrer Tätigkeit als Ärztin ist Becker Pfarrerin im Ehrenamt. Ihr oberstes Ziel: ein Tod ohne Schrecken und Schmerz. Nur wie? Höchste Zeit, darüber zu sprechen.

GEO: Sie haben den Tod jeden Tag vor Augen. Wie halten Sie das aus?

Gerhild Becker: Das geht nicht im Alleingang. Ich muss herunterkommen von diesem Omnipotenzgedanken, von dem wir Ärzte ja häufig infiziert sind. Nicht nur der Patient, auch ich brauche das Team aus Sozialarbeitern, Kunst- und Physiotherapeuten, Seelsorgern, psychosozialen Betreuern und Pflegenden, das in der Palliativmedizin mit mir zusammenarbeitet. Manchmal ist da so viel Leid imRaum, das kann ich unmöglich nur auf meinen Schultern tragen. Eine Riesenressource, aus der ich schöpfe, ist Humor.

Wann haben Sie denn das letzte Mal gelacht?

Vor fünf Minuten. Ich habe im Krankenhaus nie so oft von Herzen gelacht wie auf der Palliativstation.

Machen Todkranke denn so viele Witze?

Und ob! Auf unserer Station führen wir ein Humorbuch, in dem wir die Scherze der Patienten festhalten. Neulich sagte einer zum Beispiel: Bei euch ist es so schön, hoffentlich kriege ich keine Spontanheilung. Humor ist der Versuch, Abstand zu gewinnen von seinem Schicksal. Ich habe schon Vorlesungen gehalten über diese Heiterkeit neben dem Leiden. Manchmal oszilliert ein Gespräch zwischen diesen beiden Polen. Zuerst ist da Weinen, wirkliches Weinen. Und plötzlich Lachen, wirkliches Lachen. Mit Schokolade verglichen, wäre die Geschmacksrichtung edelbitter statt süß. Gehaltvoll und richtig gut.

Darf ein Arzt oder eine Ärztin wegen eines Patienten auch mal weinen?

Ja, aber in Maßen. Es ist nie verkehrt, Mitgefühl zu zeigen. Es gilt als wissenschaftlich bewiesen, dass ein empathischer Arzt wichtig für eine erfolgreiche Behandlung ist. Allerdings muss man handlungsfähig bleiben. Spüre ich, dass mir die Geschichte eines Patienten besonders zusetzt, sollte ich einenKollegen bitten, die Betreuung zu übernehmen.

Sie sprechen jetzt sehr souverän darüber. Was sind das für Situationen, die Ihnen das Wasser in die Augen treiben?

Kürzlich hatten wir eine junge Tumorpatientin, Lehrerin, alleinstehend, mit einer kleinen Tochter. Wir hatten sie so weit aufgebaut, dass sie vorerst wieder nach Hause konnte. Doch dann bekam sie zwei Stunden vor der Entlassung einen epileptischen Anfall. Hirnmetastasen. Eine Riesenkatastrophe. Was, wenn die Mutter zu Hause am Herd steht, wieder krampft und dabei kochendes Wasser über ihre Tochter schüttet? Ihr sagen zu müssen, dass die jetzt aufgetretenenKrampfanfälle ihren letzten Wunsch, noch einmal ganz allein Zeit mit dem Kind verbringen zu können, infrage stellten, ist mir sehr schwer gefallen. Zum Glück konnten wir die Metastasen im Hirn dann doch noch erfolgreich bestrahlen.

Solche existenziellen Gespräche zu führen, gehört sicherlich zu den Kernaufgaben eines Palliativmediziners. Ihre Studenten üben das mit Schauspielern, die Krankheiten simulieren …

Und sie bekommen bereits im zweiten Semester die Möglichkeit, unheilbar kranke Patienten zu begleiten, manchmal bis zu deren Tod. Die Studierenden sprechen mit ihnen über das Sterben, warten mit den Patienten auch schon mal vor dem Arztzimmer den nächsten Befund ab. Und manchmal huscht dann plötzlich ein Halbgott in Weiß vorbei mit ernstem Gesicht und grüßt nicht. Oh je, denkt man da doch sofort, das bedeutet nichts Gutes! Ein solcher Perspektivenwechsel lehrt unter anderem, wie wichtig es ist, dass ein Arzt selbst unter Stress freundlich grüßt. Ich lege meine Studierenden auch gern mal ins Bett, beuge mich über sie und frage: Wie fühlen Sie sich jetzt?

Sollte sich ein Arzt während der Visite denn lieber hinsetzen?

Genau. Aber nach Möglichkeit nicht so väterlich auf die Bettkante. Wenn ein Mensch so krank ist, dass er nicht mehr aufstehen kann, ist das Bett seine letzte Privatsphäre, die gewahrt werden muss. Wir Ärzte hören unseren Patienten außerdem zu wenig zu. Wenn wir schon nichts mehr machen können, dann reden wir eben. Dabei sollte ein Arzt auch einfach mal den Mund halten können, dem Patienten Zeit lassen, seine Ängste und Sorgen zu äußern. Dazu gehört auch, dass wir Ärzte Gesprächspausen aushalten können, was uns oft nicht leicht fällt, weil wir ja zum Handeln ausgebildet worden sind und unbedingt etwas für den Patienten tun wollen.

Was bewegt Ihre Patienten?

Weniger der Tod als der Prozess des Sterbens. Es ist das letzte große Abenteuer, das uns im Leben bevorsteht, eine Reise in ein Land, aus dem noch niemand wieder gekehrt ist und berichten könnte. Aber auch ein Arzt hat nicht auf alles eine Antwort, und das muss er aushalten können. Genauso muss er es akzeptieren, dass er nicht unbedingt immer das letzte Wort darüber haben kann, welche Behandlung für einen Patienten die richtige ist. In der Palliativmedizin entscheidet das am Ende vor allem der Kranke selbst.

Der Wille des Patienten ist also oberstes Gebot?

So sollte es sein. „Palliativ“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet„Mantel“. Wie ein Butler hält der Arzt diesen Mantel hin, der Patient bestimmt, in welchem Tempo er ihn überwirft. Ob er ihn überhaupt anzieht. Manchmal schlüpft er rein, dann wieder raus. Auf keinen Fall werde ich ihn mit meinem Mantel erdrücken und ihn gegen seinen Willen beispielsweise künstlich beatmen oder ernähren, weil ich als Arzt glaube, das sei meine Pflicht. Das Optimum ist nicht immer das Maximum des medizinisch Möglichen, sondern das der Situation Angemessene. Ein Leitsatz der Palliativmedizin lautet: Wir können dem Leben vielleicht keine Tage mehr hinzufügen, wohl aber den Tagen Leben geben.

Was tun Sie, wenn jemand Sie anfleht, seinem Leben doch endlich ein Ende zu setzen?

Das höre ich meist in einer Situation des totalen Leidens, wenn der ganzeMensch nur noch aus Schmerz besteht. Wir hatten einen jungen Krebspatienten, der uns extrem unter Druck setzte. Er schrie immerzu: Macht was! Jetzt! Nichts half. Der Körper des Mannes war nicht zu beruhigen. Wir versetzten ihn in eine besondere Art von Tiefschlaf, der sich palliative Sedierung nennt. Sie ist für mich die Ultima Ratio in Situationen, in denen nichts anderes mehr hilft. Bei diesem Patienten hatte sie einen Effekt ähnlich dem Steckerziehen bei einem Computer, dessen Betriebssystem sich aufgehängt hat. Als der Patient nach drei Tagen aus dem künstlichen Koma erwachte, hatte sein Körper neue Kraft geschöpft, die Schmerzmittel zeigten plötzlich Wirkung. Sein Lebenswille war zurück, dieFrage nach der erlösenden Spritze hatte sich erübrigt. Zum Glück kommt die palliative Sedierung jedoch nur außerordentlich selten zum Einsatz. Häufig genügt es aber schon, von dieser Möglichkeit nur zu erzählen, zu zeigen, dass es auch in extrem schwierigen Situationen Möglichkeiten gibt, damit eine Last vom Patienten fällt.

Was vor Augen führt, wie eng Psyche und körperlicher Schmerz miteinander verwoben sind.

In der Palliativmedizin sprechen wir darum auch von „ganzheitlichem Schmerz“. Viele Menschen halten ihn für eine Quittung, die sie für einFehlverhalten einstecken müssen. Eine Patientin, die ihre Tumorerkrankung und die dadurch verursachten Schmerzen als Strafe empfindet dafür, dass sie ihreMutter ins Altenheim gegeben hat, kann ich mit Medikamenten behandeln. Doch allein dadurch würde der Schmerz nicht verschwinden. Er darf es ja nicht, wenn die Patientin glaubt, ihn als gerechte Strafe zu verdienen. Also ist es wichtig, dass wir mit ihr über die von ihr empfundene Schuld sprechen, unabhängig davon, ob dieses Schuldgefühl in unseren Augen begründet ist oder nicht.

Nicht zuletzt trägt die psychologische Betreuung ja auch dazu bei, dass diese Patientin in Frieden mit sich selbst sterben kann. Was gehört denn noch zu einem idealen Tod?

Es gibt keinen idealen Tod. Sterben ist so individuell wie Leben. Es lässt sich in keine Schablone pressen. Die große Herausforderung besteht darin, auszuloten, was der einzelne Patient als passend für sich empfindet. Vor Kurzem starb bei uns ein junger Soldat. Er rang erbittert mit sich selbst und mit seiner Erkrankung, wollte einfach nicht loslassen. Ein Soldat stirbt vielleicht im Kampfeinsatz, aber nicht im Bett. Doch dann hatte er es geschafft, in seinem Zimmer war plötzlich tiefer Frieden eingekehrt. Wir spürten, dass er trotz allem gut angekommen war an seinem Ziel. Und kürzlich bekamen wir eine Postkarte von einem Patienten, der noch einmal zum Nordkap aufgebrochen war. Eine Reise, die wir gemeinsam mit ihm geplant und in die Wege geleitet hatten.

Wie bitte? Zu Ihren Kompetenzen gehört es auch, Reisebüro zu spielen?

Das Organisieren hat in erster Linie eine Sozialarbeiterin in die Hand genommen. Sie hat auch dafür gesorgt, dass unser Patient eine Reiserücktrittsversicherung abschloss und die richtige Krankenversicherung, die im Notfall auch die Kosten für seinen Transport nach Hause übernommen hätte.

Kümmern Sie sich auch um die Angehörigen?

Natürlich, für sie ist die Phase des Abschiednehmens eine intensive, wertvolle Zeit. Das Team muss sensibel reagieren und auf die Bedürfnisse aller Beteiligten achten. Eine Frau, deren Mann auf unserer Station im Sterben gelegen hatte, erzählte mir hinterher, es sei wie am Anfang ihrer Ehe gewesen. Es habe nur sie beide gegeben. Wir hatten sie bewusst in Ruhe gelassen. Er lag im Bett, sie hielt seine Hand und schwieg. Dennoch war da diese intensive Kommunikation zwischen den beiden. Wir wollten, dass das Paar ungestört Abschied voneinander nehmen konnte.

Wie erleben Kinder den Tod eines Elternteils?

Um das genauer herauszufinden, haben wir eine Studie durchgeführt. Wir interviewten Mädchen und Jungen, deren Mütter oder Väter gestorben waren, undließen sie dabei Bilder malen, die Kunsttherapeuten und Psychologen analysiert haben. Normalerweise benutzen Kinder beim Malen eher selten Silber und Gold. Doch als es um den Tod eines Elternteils ging, tauchten diese sakral anmutenden Farben umso häufiger auf. Sie hatten offenbar verstanden, dass da etwas sehr Besonderes passiert war. Die Zeichnung eines Fünfjährigen ist mir in besonderer Erinnerung geblieben: Den Tod seiner Mutter symbolisierte er mit der untergehenden „Titanic“. Doch am oberen Rand des Bildes flogen drei kleineVögel. Das waren er, seine Schwester und sein Vater. Der Junge sagte, zusammen seien sie nun auf die Suche nach einer neuen Insel gegangen. (2015)