Braut wider Willen
REPORTAGE VON SUSANNE KRIEG
GEO Magazin
Leywalem und Sumina – zwei Mädchen aus Äthiopien und Nepal; zwei von weltweit 51 Millionen minderjährigen Ehefrauen, deren Kindheit über Nacht zu Ende gegangen ist. »Diene undgehorche!«, sagen die Eltern und sprechen ihren Töchtern jeden eigenen Willen ab. Und so schicken sie15-Jährige, 14-Jährige, sogar Elfjährige in den Haushalt und das Bett eines fremden Mannes. In die Unterwerfung. In gefährlich frühe Schwangerschaften. Aus »Tradition«.
Eine Braut muss mürbe werden, sagt man im Dorf, damit sie sich in der Hochzeitsnacht nicht wehrt. Deshalb darfLeywalem Mucha nichts essen, kein Fleisch, kein Brot. Seit Tagen zählt ihre Mutter unermüdlich Gebote auf, die eine gute Ehefrau zu beachten hat. „Weine nicht und lerne Demut!“, oder: „Schweig und stelle keineFragen!“ Reglos hockt die Braut am Hochzeitsmorgen in ihrem Elternhaus, einer runden Strohhütte ohne Fenster unter einem knorrigen Affenbrotbaum. An der Wand hängt eine gelbe Plastiktüte, gepackt mit Leywalems Habseligkeiten. Noch nie hat die 14-Jährige ihr Dorf Wonberma im Hochland von Äthiopien verlassen. Nun wird ein fremder Mann sie mitnehmen. Wohin, das weiß sie nicht.
Am Abend zuvor ist er gekommen. Neun Freunde hat er mitgebracht, ein Maultier und ein weißes Kleid. Sie darf ihren Bräutigam nicht sehen, nur hören. Die ganze Nacht hindurch hat er mit seinen Freunden Schnaps getrunken und gelärmt. Er hat ihr den Schlaf geraubt. Nun liegt er in der Hütte nebenan im Stroh. Leywalem will ihn nicht. Seine Freunde singen wieder, diesmal im Takt einer Trommel, die immer schneller wird. Die Trumba, ein Horn, ertönt.
Das Mädchen erhebt sich langsam, so als müsse es gegen die Sogkraft der Erde arbeiten, verhüllt den schmalen Körper mit einem weißen Baumwolltuch. „Ich werde tun, was er verlangt“, sagt Leywalem leise, weil sie es sagen muss. Vielleicht schießt ihr in diesem Moment der Gedanke durch den Kopf, dass die beiden Schwestern es damals richtig gemacht haben. Vor zwei Jahren sind sie davongelaufen, nachdem der Vater, ein Hirsebauer, plötzlich verstorben war und ihre Mutter Gnat sich fragte, wie sie sechs Kinder ohne Mann ernähren sollte.
In ihrer Not hatte die Mutter immer häufiger von Heirat gesprochen. Doch Leywalems Schwestern wollten keinen Mann wie all die anderen Mädchen auf dem Land, nicht irgendeinen, der sie vielleicht satt macht, dafür aberBefehle erteilt. Sie wollten stattdessen zur Schule gehen, in Bahir Dar, der Hauptstadt der Region Amhara.
Die Mutter verstand das nicht. Eines Tages liefen Leywalems Schwestern über das trockene Ackerland davon, zur asphaltierten Straße, einen Tagesmarsch von Wonberma entfernt. Die Schwestern wollten den Bus in die Stadt nehmen. Seither hat niemand mehr von ihnen gehört.
ENDSTATION BAHIR DAR. Jeden Morgen zwischen neun und elf Uhr rollen die Omnibusse aus den Dörfern in den Bahnhof der regionalen Hauptstadt. Menschen, beladen mit prallen Nylonsäcken und Koffern, drängen hinaus ins Freie. Das ist der Augenblick, in dem sich Papa Sudan auf die Lauer legt. Unauffällig hält er im Gedränge Ausschau.
Die sichersten Erkennungsmerkmale: Tätowierungen. Meist ist es ein Kreuz auf der Stirn, mal ist es eine Sonne, manchmal sind es Zickzacklinien am Hals, die aussehen wie Stacheldraht. Die Leute in den Dörfern glauben, Tätowierungen würden ihre Töchter überall vor Unheil bewahren. Papa Sudan lacht darüber, in der Stadt verlieren diese Zeichen ihren Schutz.
Wenn Mädchen mit Plastiktüten in der Hand und ängstlichen Augen allein im Schatten der Busse stehen, dann pirscht Papa Sudan sich an, dann spielt der Mann mit der roten Pudelmütze und dem Kugelbauch den nettenOnkel. Wenn er fragt, warum sie so traurig seien, erzählen sie fast immer die gleiche Geschichte: Dass sie davongelaufen sind, weil ihre Eltern sie verheiraten wollten. „Das wird schon wieder“, sagt Papa Sudan dann. Und er erzählt, dass er nette Familien kenne, die Hausmädchen suchten. Sie würden gutes Geld verdienen, verspricht er, vielleicht könnten sie nebenbei sogar zur Schule gehen In Wahrheit erwartet die Mädchen in den Familien etwas anderes.
Sie werden geschlagen, sie müssen auf dem Küchenboden schlafen und von morgens bis abends arbeiten. Natürlich erhalten sie dafür kein Geld. Und manchmal fallen die Hausherren über sie her.
Unrechtsbewusstsein? Warum sollte Papa Sudan das haben? Was die Menschenrechtler moderne Sklaverei nennen, ist in der Region Amhara normal. Der Markt floriert, die Nachfrage nach Mädchen ist groß in der Stadt. Vor der Polizei fürchtet sich Papa Sudan nicht. Nur schnell und geschickt muss er sein, denn er ist nicht allein: 20 Menschenhändler streiten sich mit ihm auf dem Busbahnhof von Bahir Dar um die Ware vom Land.
Oft kommen die Mädchen zurück zu ihm und flehen: „Papa Sudan, hol uns da raus! Das muss ein Missverständnis gewesen sein.“ Dann bringt er sie in ein „Buna Bet“, eine schäbige Bar, die es in Bahir Dar an jeder Ecke gibt; in ihnen gehört neben Kaffee, Gin und Bier auch Sex mit jungen Mädchen zum Angebot.
Papa Sudan sagt, in guten Zeiten verkaufe er 15 Mädchen am Tag. 50 Birr, umgerechnet rund vier Euro, kassiert er für eine entflohene Braut. Das durchschnittliche Monatseinkommen eines Äthiopiers beträgt weniger als neun Euro. Papa Sudan ist ein wohlhabender Mann.
Nachschub aus den Dörfern gibt es reichlich: In der Region Amhara, wo mehr als die Hälfte aller Mädchen spätestens mit 15 Jahren gegen ihren Willen verheiratet wird, fliehen sie in großer Zahl. Nicht nur vor der Ehe, auch vor dem Schicksal, als „Kemankar“ verspottet zu werden, als“Unverheiratete“. Eine Kemankar wird zu Freiwild erklärt und nicht selten auf einsamen Wegen vergewaltigt. Ein Mädchen, das lesen und schreiben kann, läuft in Gegenden wie diesen Gefahr, für immer eine Kemankar zu bleiben und seinen Eltern, meist bitterarmen Bauern, länger als nötig zur Last zu fallen. „Gebildete“ gelten als schlechte Partie. Auch deshalb sind geschätzte 70 Prozent aller äthiopischen Frauen Analphabetinnen.
„Schule ist teuer und stachelt die Mädchen auf!“, zischt Challe Alemu. Er ist Leywalems künftiger Schwiegervater, ein Khat-Bauer mit ledrigem Gesicht, der sich zur Hochzeit seines Sohnes eine schmutzig weiße Decke um die Schultern geworfen hat. „Mädchen, die zur Schule gehen, wollen nicht auf dem Feld arbeiten. Und sie lassen sich mit Jungen ein.“ Leywalem kann nicht lesen und nicht schreiben. Sie ist nie zur Schule gegangen. Außerdem ist sie Jungfrau und gehorsam; ihre Mutter hat sie als fleißige Arbeiterin angepriesen.
„Drei Monate habe ich suchen müssen, bis ich sie für uns gefunden habe“, erzählt der Schwiegervater. „Für uns“ sagt er, weil von einer amharischen Braut die ganze Familie profitiert.
Für die Schwiegereltern wird Leywalem Wasserkanister und Feuerholzbündel schleppen, Ziegen hüten und Fladenbrot backen, sie wird Khat-Sträucher bewässern, Getreide ernten und es zur Mühle tragen,barfuß und gebeugt, die Riemen der schweren Körbe vor die Brust gespannt. Ein halbes Jahr, vielleicht auch länger, wird das Mädchen diesen Pflichten nachkommen müssen, so lange, bis es mit seinem Ehemann in eine eigene Hütte ziehen darf.
Am Hochzeitsmorgen hat der Schwiegervater sich mit dem Ältestenrat von Wonberma verabredet. Im Schatten des Affenbrotbaumes vor der Hütte der Braut verhandeln die Männer die Details des Ehevertrags. Feinsäuberlich hält einer die Mitgift für den neuen Hausstand auf einer Matritze fest: drei Rinder von Challe Alemu, drei von den Onkeln der Braut. Ablösesumme an die Mutter: 250 Birr, rund 20 Euro. Mit scharfem Gin wird auf das Wohl des jungen Paares angestoßen.
Hinter dem Haus hält sich die Braut vor den Blicken des Bräutigams versteckt. Eine junge Nachbarin schert Leywalem nach altem amharischen Hochzeitsbrauch das Haupt und zwitschert der Freundin dabei Mädchengeheimnisse ins Ohr. „Ich weiß, wie man Kinder kriegt“, sagt sie und kichert.
Leise schabt die Klinge über Leywalems Kopfhaut. Ein Cousin kommt hinter die Hütte gelaufen, in eine Schnapsfahne gehüllt. Er wedelt mit dem Ehevertrag. Vorlesen will er ihn nicht. Und selbst wenn er es täte: Leywalem hat nie gelernt, dass sie das Recht hat, Nein zu sagen. Mit einem Kugelschreiber bekritzelt der Cousin ihren Zeigefinger, dann drückt er ihn auf das Blatt Papier. Die Braut hat ihr Einverständnis gegeben.
WENN DIE DUNKELHEIT HEREINBRICHT IM 5. BEZIRK der amharischen Stadt Bahir Dar, räumen die Mädchen die Ginflaschen auf die Tische und knipsen die roten Glühbirnen an; dann posieren sie in den Türen ihrer kleinen Hütten. „Koshokosh, Koshokosh!“, flüstern die Männer, wenn sie an den Silhouetten vorübertreiben -„ihr kleinen Huren!“ Manchmal, nach zu viel Gin, werden die Männer aggressiv. Tags zuvor erst hat einer der Freier das Mädchen China mit Steinen attackiert. Manche tragen sogar Messer und Pistolen bei sich. Im 5. Bezirk danken die Frauen Gott für jede Nacht, die sie heil überstehen.
Am Nachmittag sitzt China, um die Augen verschwollen, ein Zahn ausgeschlagen, bei den anderen Mädchen in Elsa Hailes Hütte. Sie mussten ihr die Zöpfe abrasieren, um die Platzwunden an ihrem Kopf versorgen zukönnen.
Elsa hat frisches Gras ausgestreut, stampft Kaffeebohnen und schüttet sie mit einer eleganten Bewegung in eine Tonkanne, die auf einem Kohleherd dampft. Die 20-Jährige trägt ein zitronengelbes Kleid. Es ist neu.
„Sie muss eine gute Nacht gehabt haben!“, wispert Yirgide.
„Woher hat sie das Kleid?“, will Alemesh wissen.
„Vom Händler an der Ecke“, raunt Erkya.
Auf dem Boden spielt Elsas Tochter Senait mit einem Feuerzeug, eine Fünfjährige mit trotzigem Blick. Nachts schläft Senait hinter einer blickdichten Plane in einer Holzkiste am Fußende von Elsas Bett, damit die Freier sie nicht sehen.
Räucherstäbchen verbreiten einen schweren Duft. Elsa lässt eine Tüte mit Khat-Blättern und eine Schachtel mit Kondomen herumgehen, jede nimmt sich für die nächste Nacht. Damit läuten sie nachmittags die Kaffeezeremonie ein, das Ritual, mit dem sich die Koshokosh von Bahir Dar einen Funken Normalität in ihren Alltag zurückholen.
Elsa ist, wie fast alle hier, davongerannt vor einer Hochzeit, die sie nicht wollte. „Wir sind Töchter, die gegen die Regeln des Dorfes rebelliert haben“, sagt sie. „Nun müssen wir dafür büßen.“
Ein Lastwagenfahrer hatte Elsa mitgenommen, als sie, gerade 14 Jahre alt, aus ihrem Elternhaus floh. Auf dem Weg nach Bahir Dar vergewaltigte er sie. Dann verschacherte er sie an eine Barbesitzerin. Elsa musste anschaffen gehen, damit sie der Zuhälterin das Geld zurück geben konnte, für das diese Elsa dem Fahrer abgekauft hatte. Kondome gab es nicht.
„Wasch dich hinterher, das genügt!“, hatte die Barbesitzerin gesagt.
Es dauerte nicht lange, und Elsa wurde schwanger. Von wem, das weiß sie nicht. Als das Baby kam und mit seinem Gebrüll die Kunden vertrieb, setzte dieZuhälterin Elsa vor die Tür. Was bleibt einer, die nichts weiß und nichts kann, die Hunger hat und ein Neugeborenes am Leben erhalten muss? Neun Tage nach der Geburt begann Elsa wieder zu arbeiten, dieses Mal auf eigene Rechnung auf den Straßen im 5.Bezirk.
„Was war ich dumm!“, sagt Elsa oft. Es klingt, als würde sie sich allein die Schuld an diesem Leben geben – und nicht ihrer Familie, dem Dorf und seinen Bewohnern; Eltern, die, gefangen in Tradition und Armut, Töchtern seit Generationen einen eigenen Willen absprechen und Bildung für sinnlos und schädlich halten.
Vor Kurzem stand plötzlich Adera, ihre 15-jährige Schwester, vor Elsas Hütte, wie sie selbst vor einer Zwangsheirat geflohen. „Du wirst wie wir alle ins offene Messer laufen, und ich werde dir dabei zusehen müssen“, hatte Elsa geschimpft. Doch zurück ins Dorf schicken konnte sie ihre kleine Schwester nicht.
DIE JAHRE IM 5. BEZIRK haben Elsa klug gemacht. Sie hat gelernt, sich und anderen mit kleinen Tricks zu helfen. So hat sie zum Beispiel begonnen, die Gläser, in denen sie den Freiern ihren selbst gebrannten Gin verkauft, am Boden mit Kerzenwachs zu beträufeln. Sie verbraucht nun ein Drittel weniger Schnaps. Mit dem zusätzlich verdienten Geld bezahlt Elsa Adera einen Schlafplatz unter dem Bett der Alten, die in der Hütte gegenüber wohnt. Sie schickt ihre kleine Schwester zur Schule. Sie achtet darauf, dass Adera sich vonMännern fernhält. Sie hat sie aufgeklärt, vor allem über Aids, jene Seuche, die unaufhaltsam ihre tödliche Spur durch den 5. Bezirk zieht. So viele, meist ahnungslose Mädchen hat die Seuche dahingerafft, dass auch Elsa bei jedem Husten, jedem Schnupfen Todesangst bekommt.
Die Verheiratung minderjähriger Mädchen ist in Äthiopien seit 1957 verboten. Das hat sich selbst im amharischen Hochland herumgesprochen, wo Botschaften nicht über Zeitungen, Radio und Telefon verbreitet werden, sondern immer noch mit Eselskarren reisen, über Trampelpfade auf die Märkte und in die staubige Savanne fliegen. Eltern, die sich über das Gesetz hinwegsetzen, droht eine Gefängnisstrafe – auch das wissen die meisten Bauern: sieben Jahre für eine verheiratete Tochter unter 13, drei, wenn sie jünger als 18 ist. Doch Traditionen sind stärker als Gesetze. Und auf dem Dorf gelten all jene als Verräter, die sich gegen das Althergebrachte auflehnen.
Am gefährlichsten sind aufmerksame Lehrer. Ein leerer Stuhl im Klassenzimmer, auf dem noch vor Kurzem ein Mädchen gesessen hat, genügt, schon schöpfen sie Verdacht: Da ist wieder eine illegale Hochzeit gefeiert worden, da ist wieder ein Mädchen in der Küchenhütte ihrer Schwiegereltern verschwunden.
Die Lehrer führen Listen und geben die Namen der Mädchen an die Behörden weiter. Manchmal wandert dann sogar ein Polizist hinaus in das betreffende Dorf, um die Brauteltern im Namen des Gesetzes festzunehmen. Sie haben nur eine Chance, der Strafe zu entgehen: Sie müssen die Hochzeit ihrer Tochter für ungültig erklären und unterschreiben, dass sie das Mädchen wieder zur Schule schicken werden. In Adet, einem von 105 Distrikten in Amhara, sollen auf diese Weise in den vergangenen Monaten 59 Hochzeiten aufgehoben worden sein. Doch das Überwachungsnetz ist löchrig. Mädchen wie Leywalem, die nie zur Schule gegangen sind und keinen Kontakt zur Welt außerhalb ihres Elternhauses haben, wird niemand vermissen.
Und was ist schon eine Unterschrift auf einem Stück Papier? Jeder weiß, dass sich Dörfer ohne Strom und Anbindung an Straßen kaum überwachen lassen. Um den Schein zu wahren, schicken manche Schwiegereltern die Bräute ihrer Söhne zwar zur Schule, doch sie kaufen ihnen weder Hefte noch Bücher und lassen ihnen keine Zeit, für Prüfungen zu lernen. Ausgelaugt von der Hausarbeit, sitzen solche Mädchen teilnahmslos im Klassenzimmer, bis sie zum ersten Mal schwanger werden. Dann verschwinden sie endgültig.
YEKABA SEHEN WIR EINES MORGENS IM VORBEIFAHREN. Als wir stoppen, krümmt sich die 15-Jährige vor Schmerzen auf einer Trage aus Stöcken und Stroh. Seit zwei Tagen und Nächten irrt ihre Familie mit der Gebärenden durch die Savanne, auf dem Weg ins Krankenhaus nach Bahir Dar.
„Das Kind will nicht hinaus!“, ruft Yekabas Mutter verzweifelt, „Tiest, der Geist, hält es fest im Mutterleib.“ Tiest komme mit dem Savannenwind, sagt sie, und er sei schuld daran, dass Frauen diese Höllenqualen erdulden müssen.
Wir fahren Yekaba in die Klinik und fragen uns, wie lange sie noch durchgehalten hätte, wären wir nicht zufällig vorbeigekommen.
Stöhnen und Wimmern dringt in den Hof. Stundenlang sitzen wir vor der Geburtsstation, gemeinsam mit einem Dutzend Bauernfamilien aus dem Hochland. Sie alle haben aus dem gleichen Grund den weiten Weg in die Provinzhauptstadt auf sich genommen: In den Leibern der Frauen stecken die Kinder fest. Seit Tagen schon.
„Sie dürfen nicht schreien“, sagt eine alte Frau, die ihrem Sohn, einem werdenden Vater, Fladenbrot mit Soße reicht. „Schreie locken die bösen Mächte an.“ Später die gute Nachricht: Das Baby ist da, es ist ein Junge. Yekaba hat überlebt. Vater und Mutter fallen weinend auf die Knie.
Yekaba hat Glück gehabt. Medizinisch gesehen, ist sie mit 15 Jahren im gebärfähigen Alter – würde sie in einer Industrienation leben. Äthiopien aber ist eines der ärmsten Länder der Welt. Mädchen wie Yekaba sind häufig unternährt und in ihrer körperlichen Entwicklung verzögert. Sie tragen ein besonders hohes Risiko, eine Geburt nicht zu überleben. Pro 100.000 Geburten sterben in Äthiopien 870 Mütter – in Deutschland sind es acht.
Wenn Wehen tagelang anhalten, ohne dass die Mädchen medizinisch betreut werden, entstehen „Geburtsfisteln“: Der Kopf des Babys drückt gegen das viel zu enge Becken und unterbricht die Blutzirkulation. Gewebe stirbt ab und hinterlässt ein Loch zwischen Vagina und Blase, manchmal auch zwischen Vagina und Rektum. Überlebt die Mutter die Geburt, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass ihr Kind tot geboren wird und sie einLeben lang unter schwerer Inkontinenz leidet.
In Äthiopien werden jährlich drei Millionen Frauen schwanger, im Durchschnitt bringt jede in ihrem Leben fünf Kinder zur Welt. Über die Hälfte aller Schwangeren sind Mädchen unter 18 Jahren. Schätzungsweise 9.000 Äthiopierinnen pro Jahr entwickeln Geburtsfisteln. An den Folgen sterben jedes Jahr vermutlich 4.000 Frauen.
IN DÖRFERN WIE WONBERMA hält sich seit Ewigkeiten der Glaube, der Erzengel Gabriel habe der Jungfrau Maria im Alter von 15 Jahren verkündet, dass sie Gottes Sohn empfangen werde. Und darum müssen Mädchen früh gebären.
Was kann schlecht daran sein, fragen die Leute, wenn selbst Maria derart jung Mutter geworden ist? In Amhara, dem Herzland des christlich-koptischen Äthiopiens, ist die Macht der Kirche noch immer absolut.
Leywalem muss das goldene Kreuz küssen, während der alte Priester sein Gebet herunterschnarrt. Ein weißes Kopftuch verdeckt das Gesicht der Braut, der Cousin schiebt ihren Kopf in die richtige Richtung; wie ein Geschenk ist sie in mehrere Lagen Kleider und Hosen gehüllt. Die Braut hat ihren Bräutigam immer noch nicht zu Gesicht bekommen. Sie darf auch nicht erfahren, in welches Dorf sie an diesem Tag ziehen wird – sie soll den Weg zurück zu ihrer Mutter nicht finden.
Mit Schwung hebt der Trauzeuge Leywalem auf das Maultier. Dann steigt er selbst hinter ihr in den Sattel und hält mit der linken Hand einen schwarzen Regenschirm, sein rechter Arm umklammert die Braut. Er wird sicherstellen, dass Leywalem nicht vom Esel fällt oder abspringt und davonrennt. Der Trauzeuge ist der beste Freund des Bräutigams. Er wird dem jungen Ehemann in der Hochzeitsnacht beistehen, falls der zu betrunken sein sollte, seine Männlichkeit zu beweisen.
Und da steht er nun: Alelegn Challe, der Bräutigam, 24, vielleicht auch 25 Jahre alt – er weiß es selbst nicht so genau. Trägt weiße Sandalen und Strümpfe. Die Beine lang, die Arme auch. Auf seinem Kopf ein schief sitzender Turban. Alelegns Freunde tanzen unter dem Affenbrotbaum. Der Boden erzittert, und ihre stampfenden Füße wirbeln Staubwolken auf. Sie johlen und hecheln, beinahe so, als wollten sie eine geglückte Entführung feiern.
Nein, hat Alelegn uns am Abend zuvor verraten, auch er habe die Hochzeit nicht gewollt.
Doch dann hat er mitgefeiert. Leywalem sei nicht gerade das, was er sich ausgemalt hat, sagt er, das müsse er zugeben – zu jung ist sie, soweiter das erkennen kann. Keine Hüften, kein Busen, kein Po. Ein wenig widerspenstig wirkt Leywalem auf ihn, als bereite ihr das alles kein Vergnügen. Aber Alelegn Challes Blick strahlt Zuversicht aus. Er wird sie sich schon gefügig machen, seine kleine amharische Braut.
SUMINA BALAMI SUCHT NACH DEN SIGNALEN DER LIEBE. Verbirgt sie sich in den Blicken, die der Filmheld einer schönen Frau zuwirft? Klingt die Liebe wie die Sitarmelodien, zu denen Tänzerinnen in safrangelben Saris über dieKinoleinwand wirbeln? Sumina fragt sich, ob es eine Geheimsprache gibt, die sie nicht zu entschlüsseln vermag,weil die Liebe eine wie sie nicht findet.
Das Licht geht an. Zwei Plätze weiter, ganz außen in der Reihe, sitzt Prakasch. Er ist 16 Jahre alt, ein Jahr älter als Sumina; auf seinem T-Shirt steht „Rocker“. Zu Beginn des Films hatte er neben Sumina gesessen. Doch noch während des Vorspanns war er von ihr weggerückt.
Vielleicht ist die Liebe nur eine Erfindung, sagt Sumina sich, um Reisbäuerinnen wie mich in Bollywood-Filme zulocken.
Auf der Ladefläche eines Lastwagens fahren Prakasch und Sumina zurück ins Dorf, lassen die Betonbauten Kathmandus, die Händler, die Abgase und den Lärm der nepalesischen Hauptstadt hinter sich. Auf schlammigen Serpentinen kämpft sich der Wagen aus dem Tal hinaus in einen Wald aus Bambus, Zedern und Bananenstauden, überholt Wasserbüffel und barfüßige Kinder, taucht in ein Bergland, über dem Nebelschwaden hängen. Nach einer Stunde Fahrt eine Ansammlung Lehmhütten mit Strohdächern. Wie Schwalbennester sitzen sie zwischenden Reisterrassen im Hang. Hibiskus säumt steile Trampelpfade. Vor den Häusern schlafen Kühe; Hunde wühlen im Müll. Kagati heißt die Siedlung. 85 Prozent aller Nepalesen leben in Dörfern wie diesem.
Am Ortsrand ein kleiner Tempel, Saraswati geweiht, der hinduistischen Göttin der Weisheit. Hier haben Sumina undPrakasch Balami im Januar 2006 „den Knoten geknüpft“ – so nennt man in Kagati das Heiraten. Vor dem versammelten Dorf hatte Prakasch im Schein flackernder Butterlampen „Sindur“, geweihte rote Farbe, auf Suminas Scheitel getupft. Sie hatte das Mantra der Braut gesprochen.
Dann hatten die Männer das weinende Mädchen zum Haus der Schwiegerelten getragen.
„Sprich mit ihr!“, befahl der Vater seinem Sohn, nachdem Sumina eingezogen war. Aber Prakasch vergrub sich in seine Schulbücher. Sprach zu Sumina – aber nur in Befehlen: „Hol die Fernbedienung! . . . Geh arbeiten!“ Sie redete. Prakasch schwieg. Wenn der Vater betrunken war, brüllte er seinen Sohn an: „Warum schläfst du nicht mit deiner Frau?
Ist sie dir nicht gut genug? Ich will einen Enkel sehen, bevor ich sterbe!“
Anfangs ließ Prakasch seine jüngere Schwester wie eine Schutzmauer zwischen sich und Sumina im Ehebett liegen. Er hatte Angst. Woher sollte er wissen, wie man mit einem Mädchen schläft? Wie sollte er die Verantwortung für ein Kind übernehmen?
Wenn die Schwester nicht zwischen ihnen liegen wollte, wurde Prakasch wütend.
Und Sumina, zusammengerollt auf ihrer Betthälfte, weinte lauter als ihre kleine Schwägerin.
Eines Abends, der Vater war wieder betrunken, verprügelte er seinen Sohn. Zumindest in einer Hinsicht vermochte er Prakaschs Willen endlich zu brechen: Sumina ist im sechsten Monat schwanger, weniger als ein Jahr nach ihrer ersten Regel. Doch mit seiner Frau reden will Prakasch immer noch nicht.
Die Liebe ist wie ein Wassertopf, der erst nach der Hochzeit zu kochen beginnt – dies Sprichwort gebrauchen die Leute im Dorf, wenn sie Kinder wie Prakasch und Sumina miteinander verheiraten. Und Chakraman wartet, seit 14 Jahren schon, aber da will nichts brodeln in seiner Ehe.
Er hat eine kleine Tochter und einen Sohn. Doch wenn er deren Mutter Radikha, seine Frau, sieht, verspüre er nichts, sagt er. Nicht einmal Verliebtheit – oder das, was er sich darunter vorstellt. Wenn der 29-jährige Dorfschullehrer seinen Cousin Prakasch und dessen Frau Sumina besucht, ist es, als schaue er in einen Spiegel: verschattete Gesichter, hängende Schultern. Ein junges Unglück, seinem eigenen so ähnlich.
Ohnmacht überkomme ihn dann, erzählt er, er fühle Zorn gegen den Onkel, der nicht mit sich reden ließ, als es um Prakaschs Zukunft ging, Wut auf die Tante, die den ganzen Tag über an Zigarettenstummeln saugt und sich von ihrer Schwiegertochter bedienen lässt.
Chakraman und seine Frau wurden einander schon als Babys versprochen. Ihre Eltern waren Nachbarn, wie jene von Prakasch und Sumina. Als Jugendlicher drohte Chakraman damit, sich umzubringen, sollten seine Eltern ihre Heiratspläne in die Tat umsetzen. Er wollte nach Kathmandu ziehen und studieren, statt gehorsam das Mädchenvon nebenan zu ehelichen.
Die Eltern kauften ihm ein Paar Jeans und ein Hemd. Chakraman verbrannte beides, er wollte keine Bestechungsgeschenke. Dann wurde der Vater krank. Auf dem Sterbebett flehte er den Sohn an, ihm seinen letzten Wunsch zu erfüllen. Der Vater weinte. Chakraman auch. Dann gab er nach. Er war 15 Jahre alt.
Radikha, seine Braut, konnte weder lesen noch schreiben, geschweige denn rechnen. Als sie einzog, behielt Chakraman die Schlüssel für die Haushaltskasse in der Hosentasche. Dann meldete er Radikha in der Schule an. Doch seine Mutter schimpfte, dass die Schwiegertochter das Feld vernachlässige. Abends, nach der Arbeit, verweigerte sich Radikhas Kopf. Die Buchstaben, die Chakraman ihr auf Zettel kritzelte,wollten keine Wörter ergeben. Sie lachte müde und sagte, das sei nichts für eine wie sie. Und er hatte Mitleid, begann, seiner Frau nach der Schule auf dem Feld zu helfen, fühlte Verantwortung für sie und seineFamilie, wenigstens das.
Den Gedanken an Trennung lässt Chakraman auch nach 14 glücklosen Jahren nicht zu.
„Du wirst sehen, unsere Traditionen werden verschwinden. Alles wird anders!“, sagte Chakraman eines Tages.
„Alles?“, fragte Radikha ungläubig. „Das, was gut ist, darf doch nicht verschwinden!“
„Von nun an entscheiden wir, was gut ist!“, sagte er mit fester Stimme.
Es ist sieben Jahren her, dass Chakraman den Entschluss fasste, den Bann zu brechen und gegen die Eltern auf zu begehren, die das Schicksal ihrer Kinder bestimmten, als wären sie Götter. Er hatte Freunde, alle ebenfalls Opfer von Zwangsheiraten. Sie versammelten sich und zogen durch das 600-Seelen-Dorf. Sie riefen Parolen, schwenkten Plakate: Hochzeit erst ab 21! Stoppt Kinderarbeit! Schule für alle! Die Alten hockten am Straßenrand, als wären sie Häuser mit vernagelten Fenstern und Türen.
Die Jungen drohten mit der Polizei, falls das Dorf sich nicht dem Gesetz beugen wollte, das Kinderhochzeiten verbietet. Sie gründeten einen Verein und wählten Chakraman zu ihrem Präsidenten. In der Vereinssatzung hielten sie fest: „Wir glauben an die Würde des Menschen, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Jeder hat das Recht auf freien Willen und ein besseres Leben in Freiheit.“
Am schlimmsten sei die Eifersucht, sagt Sumina. Prakasch darf zur Schule gehen, sie nicht. Vor der Hochzeit habe der Schwiegervater ihr versprochen, dass auch sie den Vormittagsunterricht besuchen dürfe. Als sie ihn an die Abmachung erinnerte, lachte das Familienoberhaupt nur und belehrte sie mit dem Satz: „Deine Schule ist der Stall!“ Sumina war empört; doch es sollte das letzteMal gewesen sein, dass sie versuchte, sich der Tradition zu widersetzen.
Im Hang hinter dem Dorf haben Radikha und die anderen Frauen Sumina beigebracht, das Feld ihrer neuen Familie zubestellen. Verwöhnt war sie, sagt Sumina, und schlecht vorbereitet. Ihre Mutter hatte sie nur gelehrt, wie man Reis mit Linsen kocht. Sie konnte weder mit der Sense umgehen noch Kuhdung trocknen, hatte nie gelernt, wie man Messer wetzt, Affen verjagt und Vieh antreibt. Nun sind ihre Hände voller Schwielen, und darauf ist sie stolz. Sie hat auch keine Angst mehr, nachts allein im Stall zu schlafen. Lieber spart sie sich den einstündigen Weg durch Nebel und Dunkelheit zurück ins Dorf.
Sie ist inzwischen gern allein hier oben, im einsamen Außenposten der Schwiegerfamilie. Sie fühlt sich verantwortlich für das Stück Land, auch wenn es ihr nicht gehört. Hier hat sie feste Aufgaben: Grasmähen, Ziegen, Büffel, Hühner füttern. Hier vergisst Sumina die Enge im düsteren Haus, die Tobsuchtsanfälle des Schwiegervaters, der sich Schnaps in den Hals schüttet und dem niemand, niemand,Grenzen setzt. Sie vergisst auch Prakaschs Wortlosigkeit. Sumina hat eingesehen, dass eine Frau nur dann gut ist, wenn sie vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang arbeitet – auch wenn sie im sechsten Monat schwanger ist.
Manchmal fragt sie sich, wie sie das Feld bestellen soll, wenn erst das Kind da sein wird. Dann macht ihr der Bauch Angst, der so gefährlich angeschwollen ist. Er erinnert sie daran, wie die 16-jährige Surita vor Kurzem beim Unkrautjäten in einer roten Lache zusammen gesackt ist und eine Fehlgeburt erlitt. Auch, dass die 19-jährige Nachbarin Ashmita nach der Geburt ihres Babys einfach weggestorben war. Niemand weiß warum, einen Arzt gibt es nicht im Dorf.
Sumina hofft, dass das Kind ein Junge ist. Sie müsse den Schwiegervater zufriedenstellen, sagt sie. Ein Sohn wird auch Prakasch zum Reden bringen.
Im Dorf herrsche Streit, sagt Chakraman. Weil jede zweite Ehe scheitere. Und weil mit jeder Trennung immer auch die freundschaftlichen Bande zweier Sippen zerreißen. Arrangierte Ehen, die in Trümmern liegen, sind für die Familien in Kagati der Ruin, erklärt der junge Lehrer. Allein die Mitgift einer Tochter beträgt mindestens einen prächtigen Büffel und eine wohlgenährte Ziege, zählt er auf. Zudem bringen die Bräute meist neue Möbel, Küchenutensilien, neuerdings sogar teure Fernsehgeräte mit ins Haus der Schwiegereltern.
Hinzu kommen Geschenke, mit denen sich die Familien über Jahre hinweg gegenseitigen Respekt erweisen. Nicht zu vergessen die feierliche Verköstigung des gesamten Dorfes.
Schnell überschreiten die Kosten für eine Hochzeit umgerechnet 1000 Euro – eine Unsumme in einem Land, in dem ein Jahreseinkommen selten über 200 Euro liegt. Die Kredite, die Eltern für die Hochzeit aufnehmen, zahlen viele ein Leben lang ab.
„Mitgiftjäger!“, schimpfen die Brauteltern, wenn nach Jahren der Drangsal wieder eine Ehe gescheitert ist. „Eure Tochter ist eine Hure!“, poltern die Eltern des Bräutigams. Niemand will schuld sein an den zahllosen Tragödien im Dorf. Dass die Söhne und Töchter viel zu jung sind für das Leben in einer Ehe, dass sie selbst entscheiden sollten, wann und wen sie heiraten, entzieht sich der Logik einer verknöcherten Tradition. „Es ist wie mit dem Reis“, sagt Chakraman. Der wächst auf den Terrassen im Hang, so weit das Auge reicht. „Das war schon immer so!“, behaupten die Bauern, als müssten sie einer unausweichlichen Bestimmung folgen. Und darum wollen sie Neues wie Kartoffeln, Kohl, Tomaten oder Spinat nicht anbauen, obwohl sie mit Gemüse mehr verdienen könnten als mit gewöhnlichem Reis.“Verrückt!“, sagt Chakraman, „unsere Felder sind fruchtbar, nur die Köpfe der Bauern sind vertrocknet. (2008)