Leuchtturmwärter

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Die Liebe seines Lebens

REPORTAGE VON SUSANNE KRIEG

Geo Special Magazin 

Seit 13 Jahren hat der Leuchtturmwärter Serge Pare ein Rendezvous mit der Einsamkeit. Er sei glücklich, sagt er. Auf Green Island, einem winzigen Felsbuckel vor der Küste British Columbias. Einem GEO-Team offenbart er aber dann doch, was ihm fehlt .

Das Leben in den Holzfällercamps hatte er irgendwann satt, die Bettwanzen und Flöhe, das frittierte Essen, die Gemeinschaftsduschen. Über Wochen hinweg keine Privatsphäre. Und als er in den Bergen an der Küste British Columbias Fichten fällte, sah er sie zum ersten Mal: Green Island, eine winzige Insel im Chatham Sound, umspült von weißem Schaum.

 Ein baumloser Felsbuckel ist Green Island, auf dem nicht sals Gras wächst, der es von einem zum anderen Ende vielleicht auf 500 Meter bringt, der bei Flut die Form einer Hantel annimmt und bei Ebbe einem zerfransten Spiegelei gleicht. Auf einer Anhöhe ein kantiger Leuchtturm. Links und rechts davon zwei weiße Häuser mit roten Dächern. Die Insel, von dunklenRiffen umgeben, wirkte wie eine Festung auf ihn. Es schien unmöglich, ein Boot an ihren Klippen festzumachen.

 In diesem Moment begann er, seine Vorstellungen von Freiheit und Glück auf das Eiland und den Leuchtturm zu projizieren, jenen letzten Außenposten Kanadas im Pazifik. Er ließ sich zum Schiffsmotortechniker umschulen, was er längst schon hätte tun sollen. Denn das Holzfällen war nach all den Jahren nicht spurlos an ihm vorübergegangen, Knieschmerzen peinigten ihn. Beinahe täglich erkundigte er sich bei der Küstenwache nach einem Posten als Leuchtturmwärter, wohl wissend, dass dieser Beruf in Zeiten der Automatisierungund satellitengestützten Navigation vielerorts verzichtbar geworden war.

 Nach zwei Jahren endlich der Brief: ein Jobangebot auf dem wohl einsamsten unter den noch 27 bemannten Leuchttürmen British Columbias. Auf Green Island. Seiner Insel.

EIN MANN IN GUMMISTIEFELN, beschmutzt mit Möwendreck undFarbe, stampft eine Eisentreppe hinauf. Eine Klappe fliegt auf, und Serge Pare steht in der gläsernen Laterne seines Leuchtturms, 14 Meter über dem Meer. Unten gleitet eine Robbe durchs Wasser. An manchen Tagen ziehen Orcas und Buckelwale vorüber. Am nördlichen Horizont die Berge Alaskas, zu jeder Jahreszeit mit Schnee überzogen, im Westen eine unbewohnte, sumpfige Insel, dann der offene Ozean; im Osten die bewaldete Küste Kanadas, an der er einst Bäume fällte. Serge Pare, 52 Jahre alt, nicht groß, dafür mit breitem Kreuz und einer Drachentätowierung auf dem Oberarm, lächelt, als gehöre dieses Panorama ihm allein.

Dreizehn Jahre ist es her, dass der Frankokanadier 1995 sein altes Leben hinter sich ließ, um auf einer Insel im Meer ein neues zu beginnen. Dreizehn Jahre, in denen zunehmend das Bedürfnis schwand, Festland zu betreten und sich einer ihm fremd gewordenen Welt auszuliefern. Er habe, sagt Pare, kaum noch Verlangen nach anderen Menschen und auch kein Boot, das tüchtig genug wäre, die gut 40 Kilometer weite Fahrt durch den kabbeligen Sund zu überstehen. Serge Pare beginnt, die Linsen des Leuchtfeuers zu polieren, das in Dunkelheit und Nebel alle fünf Sekunden einen gleißend hellen Lichtkegel über das Wasserschickt.

Möwen schießen an der Glaskuppel vorbei zur Brutkolonie am anderen Ende der Insel, zerreißen die Luft mit ihren Schreien. Im Gras hocken Sammy und Shelby, die Labradore des Leuchtturmwärters. Ihr aufgebrachtes Bellen dringt dumpf hinauf zur Kuppel. „Wir dulden hier keine ungebetenenGäste“, sagt Pare und lacht laut. Es klingt, als mache er Witze. Doch nach einer Weile auf dieser Insel weiß man, dass Pare umso lauter lacht, je ernster er etwas meint.

Er mag die Möwen nicht. Sie machten ihn fiebrig, brächten Bakterien vom Festland auf die Insel. Um die Biester, wie Pare die Vögel nennt, abzuschrecken, hat er in seinem Reich überall große dunkle Eulen aus Ton postiert. Er hat rollenweise elektrischen Draht gespannt; die Spitzen hunderter Nägel ragen aus den Geländern des Stegs, damit es die Biester nicht wagen, sich dort niederzulassen und die Griffe mit ihrem Kot zu bekleckern. Pare befiehlt den Hunden, Eier aus den gut getarnten Nestern am Boden zu klauen und auf zu fressen. Doch genau dies wird langsam zum Problem, muss er eingestehen. Die Eier machen die Hunde dick, was auch am wenigen Auslauf auf der Insel liegt.

IN DER FERNE ZIEHEN KUTTER VORÜBER. An ihren Masten flattern USA-Flaggen, ihre Netze müssen im Trockenen bleiben. Lachse und Hummer fangen dürfen amerikanische Fischer in kanadischen Gewässern nur zu eingeschränkten Zeiten. Eigentlich so gut wie nie, meint Pare und lacht schon wieder. Er hat die Kutter immer im Blick. Sein Funkgerät, von dem er sich niemals trennt und das ihn Tag und Nacht mit der Küstenwache verbindet, hängt an seinem Gürtel wie eine Pistole am Halfter.

Einmal ist der Schauspieler Jean-Claude van Damme auf seiner Motoryacht vorbeigerauscht. Van Damme hat gewunken, wie fast alle Hobbyangler, die es in diese Gegend verschlägt. Doch spontan auf die Insel darf niemand, nicht einmal ein Action-Held. Jeder hat sich für einen Besuch auf Green Island Wochen im Voraus die Genehmigung der Küstenwache zu holen. Und so bekommt der Leuchtturmwärter auch in besucherstarken Jahren nicht mehr als vier Gäste zu Gesicht.

Sie dringen ein aus der Welt dort draußen, die Pare fast nur noch vom Fernsehen her kennt und in der es für ihn von Terroristen, Diktatoren, Amokläufern, Umweltsündern und Massenmördern nur so zu wimmeln scheint.

Wenn Serge Pare, an seine Labradore geschmiegt, auf der Couch im Leuchtturmwärterhäuschen Nachrichten sieht, dann bläst er verwundert Zigarettenrauch an die Decke. Dann wird er das Gefühl nicht los, einem Spiel zu zu schauen, dessen Regeln er verlernt hat. Über dem Sofa hängt ein Teppich, darauf ein Engel, um den weiße Tauben flattern. Es sieht aus, als halte derEngel schützend seine Hände über Serge Pare, der die Menschen verließ.

AM LIEBSTEN WÄRE PARE GANZ AUF SICH ALLEIN GESTELLT. Doch Sicherheitsbestimmungen der kanadischen Küstenwache sehen vor, dass es aufGreen Island einen Assistenten geben muss. Serge darf ihn sich nicht aussuchen, und so schickt das Festland immer wieder einen neuen Fremden auf die Insel – auf dass er mit dem Leuchtturmwärter Tag und Nacht in zwei Schichten zerteile.

Alle drei Stunden muss die Wetterlage zur Zentrale derKüstenwache gefunkt werden.

Wolkenbild, Temperatur, Windstärke, Luftfeuchtigkeit. Für Kapitäne und Piloten, die den Chatham Sound anpeilen, sind es unverzichtbare Informationen. Pare hat Dienst zwischen drei Uhr morgens und 18 Uhr abends, danach übernimmt der Assistent.

Er, Pare, würde den Fremden nie zum Essen einladen. Der Assistent darf an seine Tür klopfen, aber über die Schwelle lässt er ihn höchst selten. Er hat eine unsichtbare Linie gezogen zwischen seinem und dem Haus des anderen, die allenfalls Geräusche überwinden: „Manchmal“, sagt Pare, „höre ich ihn bis in mein Schlafzimmer schnarchen!“ Der andere heißt Aaron Calli, ist 25 Jahre jung, geschätzte 150 Kilo schwer und benötigt viele Anweisungen. Zumindest glaubt Pare das, also schreibt er ihm in dicken Buchstaben Aufgaben auf  Zettel. Jeden Tag gibt es neue; sie kleben in der Werkstatt, über der stationären Funkanlage, am Wetterstand.

DER LEUCHTTURMWÄRTER BEÄUGT SEINEN ASSISTENTEN, als sei dieser ein Grizzlybär, der plötzlich im Garten aufgetaucht ist und in Schach gehalten werden muss. Er verfolgt ihn mit ähnlich misstrauischen Blicken wie die Kutter auf dem Wasser, kontrolliert, wie Calli unbeholfen die Wolken liest, um seine Ergebnisse auf vorgefertigten Formularen für den Wetterbericht zuvermerken (Cirrus Cirrocumulus?Altostratus? Oder doch eher Altocumulus Lenticularis?).

„Man muss doch ein Ziel haben, erst recht auf dieser Insel!“, denkt Serge Pare jedes Mal, wenn sich sein Assistent zum Wetterstand schleppt. „Aaron!“, bellt er vom Balkon hinunter,“vergiss nicht, dass du noch die Wasserpumpe reparieren musst!“ „Dieser Typ“, raunt Calli, das Gesicht rot vom Wind, „nimmt sich doch viel zu ernst!“ Er schleicht zurück in sein Haus, wo er in seinen freien Stunden unter einem indianischen Traumfänger vor dem Fernsehgerät hockt, Vorratszigaretten dreht, schläft, Vitaminpillen schluckt, Fertiggerichte in sich hineinstopft oder Playstation spielt. Calli hat sich für diesen Aushilfsposten beworben, weil er Pokerschulden abarbeiten muss. Auf Green Island läuft er wenigstens für eine Weile keine Gefahr, noch mehr Geld zu verspielen. Er gähnt. Bei Gott, er zähle die Stunden, bis ihn der Helikopter zurück an Land bringen wird. „Irgendwie verrückt“, murmelt er dann,“wie es einer 13 Jahre hier aushalten kann!“ Aaron Calli ist der 45. Assistent, den die Küstenwache nach Green Island geschickt hat, seit Serge Pare auf der Insel lebt.

Danke, Herr, dass Du mich davor schützt, übellaunig, abwertend oder ungeduldig zu sein“, heißt es auf einem Zettel über dem Bett des Leuchtturmwärters. „Danke, dass Du mir beistehst Tag für Tag. Nun werde ich wieder aufstehen und Deine Hilfe erneut benötigen.“ Pares Schlafzimmer gleicht einem religiösen Schrein. Direkt neben seinem Morgengebet hängen die Zehn Gebote und das Vaterunser, umrahmt von einem Rosenkranz. Auf dem Fensterbrett ruht in einer mit Blumen bemalten Urne die Asche von Namu, seinem ersten Hund.

Die Winter sind stürmisch. Dann ächzt das Haus, manchmal wackelt es wie ein Schaukelstuhl. Die Verkleidung fliegt jedes Mal davon, und Pare muss die Fenster zunageln. Im vergangenen Jahr hat ein Sturm aus Ostwest ihn gezwungen, Seile zwischen den Häusern und seinem Turm zu spannen: zumFesthalten, um nicht weggeweht zu werden. Es heißt, schon die Frau des ersten Leuchtturmwärters von Green Island habe ihre Kinder aus dem selben Grund an Wäscheleinen aufgehängt. Eine Anekdote, bei der Pare kichert, als werde er gekitzelt.

Aber selbst die fiesen Winter können ihn nicht mürbe machen. Er ist glücklich. Während andere Menschen in seiner Situation womöglich depressiv würden und sich mit Alkohol betäubten, muntert Pare sich mit Filmen auf. Sie füllen ein Regal, das bis unter die Decke des Wohnzimmers reicht. Disneys „Arielle, die kleine Meerjungfrau“ steht da, „Dr.Doolittle“, „König der Löwen“, „Ein Schweinchen namens Babe“, „Mulan“, „Findet Nemo“, „Ice AgeI+II“.

Ist der Winter vorüber, belebt Pare die Einsamkeit mit Arbeit. Befreit etwa den hölzernen Gehweg mit dem Hochdruckreinger vom Möwendreck, mäht Rasen, streicht, wartet die Generatoren und Sonnenkollektoren, die Green Island mit Strom versorgen. Zu tun gebe es immer etwas, sagt er. Zwischendurch eine Selbstgedrehte, ein Truthahn-Sandwich, dick bestrichen mit Cheese Whizz, einer orangefarbenen Käsepaste aus dem Glas. Und immer wieder einen Becher Regenwasser, den sich Pare mehrmals am Tag verordnet, „um nicht auszutrocknen“.

Einmal im Monat setzt der Helikopter vor dem Leuchtturm auf und bringt Lebensmittel, die Pare über Satellitentelefon im Supermarkt von Prince Rupert bestellt. Er hat sich alle Zähne ziehen und ein Gebiss einsetzenlassen. Eine Idee, wie sie nur in Einsamkeit wächst.

EINMAL IM JAHR STEIGT SERGE PARE SELBST IN DEN HELIKOPTER und lässt sich aufs Festland fliegen. Einen Tag lang verbarrikadiert er sich dann im Hotelzimmer, bestellt Pizza und schaut fern. Am zweiten Tag geht er zum Arzt, um sich gründlich untersuchen zu lassen. Am dritten holt er seinen alten Pick-up aus einer angemieteten Garage in Prince Rupert und besucht seinen Sohn, seinen Enkel und die Tochter im Hinterland von British Columbia. Danach fährt er quer durch Kanada weiter nach Qué­bec zu seinen sieben Schwestern und Brüdern. Aber dieses Jahr will er zum ersten Mal keine Verwandten sehen. In der Welt dort draußen könne man zu viel falsch machen. Vor allem gibt er an LandGeld aus, das er eigentlich nicht hat. Am liebsten kauft er Motorsägen. Die hortet er in seinem Keller, was angesichts der Tatsache, dass auf Green Island kein Baum wächst, etwas sonderbar ist. „Ich liebe den Duft von frischem Holz“, sagt Pare. Es scheint, als hole ihn sein altes Leben manchmal ein. Wenn er  Zeit hat, baut er aus Baumstämmen, die das Meer mitunter anschwemmt, Tische, Regale oder Stühle – Möbel für die Leuchtturmwärterfrau, die irgendwann einmal, das wünscht sich Pare, an seiner Seite leben soll.

Susan, die Mutter seiner beiden Kinder, mit der er nie verheiratet war, hat einst den Traum vom Inseldasein mitgeträumt. Gemeinsam waren sie nach Green Island gezogen. Doch dann langweilte sie sich. „Ich hasse diese Insel!“, schrie sie nach wenigen Tagen. „Entweder ich oder die Insel.“ Dann stieg sie in den Helikopter.

Michelle, eine Krankenschwester von den Philippinen, lernte Pare im Internet kennen. Er schickte 600 Dollar für das Flugticket und 300 für ihrVisum. Doch Michelle kam nie auf Green Island an. Dann war da noch Yolande, die Arbeitskollegin eines Cousins. Sie hatte eichenbraunes Haar, eine gute Figurund lebte vier Wochen bei Pare. Sie fand immer neue Beschäftigungen, lief mit den Hunden von einem zum anderen Ende der Insel, lag in der Sonne oder bemalte Blumentöpfe. Doch es wollte nicht „Klick“ machen. Schon als sie aus dem Helikopter gestiegen ist, hat er es gewusst.

Sie wollte seinen Tag verplanen. Doch das Einzige, was auf Green Island den Tag bestimmen darf, ist das Wetter, sinniert Pare. Yolande sei wohl zu kompliziert für ihn gewesen. Das Einfache im Leben sei eben am schwierigsten zu bekommen. Worte, bei denen der Leuchtturmwärter mit den Schultern zuckt, als habe er sich mit der Tatsache abgefunden.

Vor Kurzem hat er bei der Küstenwache um eine weitere Verlängerung seines Arbeitsvertrags gebeten. Sie hat das Okay gegeben. Und wenn er möchte, wurde ihm signalisiert, könne er sogar bis zur Pensionierung aufGreen Island bleiben. Serge Pare hat Ja gesagt.  (2008)