Mongolisches Gastspiel
REPORTAGE VON SUSANNE KRIEG
GEO Magazin
»Mongo!« Dieses Schimpfwort rufen manche Menschen Angela Fritzen nach. Irgendwann hat sie sich gefragt, wer diese Mongolen sind, mit denen sie verwandt sein soll, weil sie ein rundes Gesicht hat und Augen wie kleine Sicheln. Die 31-Jährige ist Reporterin beim Magazin »Ohrenkuss«, das vom Leben mit dem Down-Syndrom erzählt. Also ist sie mit ihrer Kollegin Veronika Hammel aufgebrochen: in die Steppe, zu den wahren Mongolen…
HINTER DEN MAUERN einer psychiatrischen Anstalt im südenglischen Surrey vermisst der Arzt John Langdon Haydon Down die Schädel seiner Patienten. Er fotografiert, vergleicht und notiert immer wieder eine Reihe identischer Merkmale: schräge Augen mit sichelförmigen Hautfalten; rundes Gesicht; flachesProfil. Einige der Untersuchten ähneln sich, so als seien sie miteinander verwandt. 1866 veröffentlicht der Arzt einen Aufsatz. Darin nennt er die von ihm beschriebene Gruppe Anstaltsbewohner „die große mongolische Familie“.
Mongolei, 140 Jahre später. Ein Geländebus zieht eine Staubfahne durch eine Landschaft ohne Anfang und Ende. Seit Stunden ist die Reisegruppe aus Deutschland unterwegs. In der Ferne leuchtet ein weißer Fleck: eine Jurte, endlich. Vor dem Eingang eine Nomadin im blauseidenen Deel, dem traditionellen Mantel der Mongolen. Der Bus hält, die Deutschen springen hinaus. Zuletzt die 31-jährige Angela Fritzen und die zwei Jahre jüngere Veronika Hammel. Hätte die Theorie des viktorianischen Neurologen noch immer Bestand, träfen die beiden nun auf Verwandtschaft.
Die Nomadin winkt die Gruppe in ihre Jurte. Sie reicht Quarkbrocken, die sie auf dem Dach getrocknet hat, dazu Airag, die vergorene Stutenmilch der Nomaden. Angela Fritzen blickt über den Rand ihrer Porzellanschale in die Dunkelheit des Zeltrunds, sieht zwei schmucklose Eisenbetten, darunter Schlafmatten aus buntem Stoff, einen wurmstichigen Altar mit einer Postkarte des Dalai Lama. Auf einem Ofen köchelt Tee.
„Schön hier!“, sagt Angela. Die Nomadin lächelt. Durch ein Loch in der Mitte des Dachs fällt Licht auf Veronika Hammel, sie hält das Baby der Gastgeberin im Arm. Es ist zwei Wochen alt und wie eine Mumie fest in Filz gewickelt. An einer Schnur baumelt ein Fuchs aus Stoff. Die Mutter sagt, der vertreibe böse Träume. Aus dem Bündel lugt eine rosige Nase hervor. Darüber geschlossene Augenlider, feine Striche, leicht schräg, wie mit einem Pinsel gezogen.
„Ein Mädchen?“, fragt Angela.
Die Mongolin nickt.
„Wie heißt die Kleine?“
„Handsuren.“
„Komischer Name“, sagt Angela. „Marion passt besser.“
Als sie die Jurte verlassen, lacht Veronika, und ihre Pupillen kullern umher wie ein Paar blaue Murmeln. Sie zwickt einer dunkelhaarigen Frau, die neben ihr durchs Gras watet, in die Hüften. Die Frau heißt Katja de Bragança, auch sie gehört zur Reisegruppe. „Mir ist da eine Geschichte eingefallen“, raunt Veronika und schlingt der anderen die Arme um den Hals, „eine Geschichte über zwei mongoloide Damen, die durch die Mongolei reisen.“
Katja de Braganca ist Biologin, die lange Zeit in der Humangenetik gearbeitet hat. Früher hätte sie Veronika sofort darauf hingewiesen, dass man das Wort „mongoloid“ nicht mehr benutzt. „Ihr habt nichts mit den Mongolen zu tun“, hätte sie womöglich gesagt und einen Vortrag gehalten: über jenes 21. Chromosom, das im Erbgut mancher Menschen dreimal statt zweimal, manchmal auch nur in Teilen dreimal vorhanden ist. Inzwischen findet Katja, Veronika sollte selbst entscheiden, wie sie sich nennt. Es scheint, als habe sich die 48-jährige Bonnerin das Erklären abgewöhnt. Vielleicht, weil sie es zu oft hat tun müssen. Damals, als sie noch am Humangenetischen Institut in Bonn arbeitete, wo werdende Mütter und Väter über die Erbkrankheiten ihrer Ungeborenen informiert wurden. Auch über das Down-Syndrom, die weltweit häufigste Form chromosomaler Abweichung.
Kinder mit Down-Syndrom werden sich körperlich und geistig fehlentwickeln, hieß es in den Gesprächen mit den Ärzten. Bis zu welchem Grad, darüber könne man keine genauen Prognosen abgeben. Einige Kinder mit Down- Syndrom kommen mit Herzfehlern, Seh- oder Hörstörungen zur Welt, mit Immunschwächen oder Missbildungen des Magen-Darmtraktes. Andere nicht. Die einen lernen niemals richtig sprechen; andere machen Schulabschlüsse, besuchen sogar die Universität – zumindest in Japan und Spanien. Bei nahezu allen Kindern könnten eine frühe Förderung und gezielte medizinische Versorgung viel bewirken.
Und dennoch: Da gab es diese Zahlen. Sie besagten, dass sich in mehr als 98 Prozent der Fälle, in denen eine vorgeburtliche Diagnostik stattgefunden hatte, die Mütter und Väter betroffener Kinder für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden. Eine Beratung vor diesem endgültigen Schritt nahm kaum jemand in Anspruch. Irgendwann fühlte sich Katja de Bragança in der Universität fehl am Platze. Sie wollte das Bild gerade rücken, das die Öffentlichkeit von Menschen mit Down-Syndrom hatte. Und noch immer hat.
Dann, 1998, gründete die Biologin im Zuge eines Forschungsprojekts am Medizinhistorischen Institut Bonn mithilfe von 320 000 Mark der Volkswagen- Stiftung ein Magazin. Sie hoffte, dass es in Kinder- und Frauenarztpraxen ausliegen würde. Die Texte, ausnahmslos von Autoren mit Down-Syndrom diktiert oder geschrieben, ließ sie unredigiert. Denn gerade die eigenwillige Grammatik und Rechtschreibung der Verfasser sagt viel darüber aus, wie sie die Welt sehen.
Die Biologin begann, sich alle zwei Wochen mit einem festen Stamm „Kollegen“, wie sie die Autoren nennt, zu treffen. In einem Atelier in Bonn saßen sie um einen großen Tisch, diskutierten Themen und einen Namen für ihr Magazin. Irgendwann rief einer der Kollegen: „Ohrenkuss!“ Er war auf gesprungen, küsste Katja aufs Ohr. Ein Kuss, der so wichtig war, dass er nicht zum einen Ohr rein und zum anderen gleich wieder hinausging.
Neue Korrespondenten aus Bayern, Hamburg und selbst den USA verstärkten das Team mit jeder Ausgabe. Bald schrieben mehr als 40 Autoren für das Heft. Einige bewiesen besonders viel Talent und begannen sogar, ihre Texte wie kleine dadaistische Gedichte vor Publikum vorzutragen. Ein Reh ist eine Seele mit vier Beinen. Liebe ist wie Flötenmusik. The Show must go on, my love.
In jeder Ausgabe machen sich die Autoren Gedanken zu einem bestimmten Thema, es geht um Liebe, Sex, Musik oder Drogen – um alles, was sie bewegt. Illustriert werden die Texte mit Bildern professioneller Fotografen, die bereit sind, für wenig Honorar zu arbeiten. So finanziert sich das Heft inzwischen selbst – schon 2500 Leser haben es abonniert. Darunter viele Eltern und Geschwister von Menschen mit Down-Syndrom. Aber auch Ärzte, Lehrer und Internetsurfer, die zufällig auf die „Ohrenkuss“-Homepage gestoßen sind. Der Universität hat Katja deBragança, nun hauptberuflich Chefredakteurin, mittlerweile den Rücken gekehrt.
ACHT JAHRE und 16 Heftausgaben nach der „Ohrenkuss“-Gründung: Schlafsäcke, Reisetaschen, Zelte, Klappstühle, ein Campingkocher, Töpfe und Pfannen rund um einen Geländebus ausgebreitet. Angela Fritzen und Veronika Hammel hocken mit Katja de Bragança auf einer Decke im Gras. Redaktionssitzung in der mongolischen Steppe.
Horizont, diktiert Veronika und blickt auf die endlos gestaffelten Hügelketten, das sind die Berge und die Weiden. Katja notiert den Satz in ein Heft, das sie das „Logbuch der Mongolen“ nennen. Veronika schlägt die Beine übereinander und fährt fort: Die Horizont ist am Himmel und da geht die Sonne unter. Und am anderen Horizont geht die Sonne auf.
Endlich da. Den Plan zu dieser Reise hatte das „Ohrenkuss“-Team gleich zu Beginn seiner Treffen gefasst. In der Redaktion hatte Katja Bilder von Jurten, grasgrünen Hügeln und Menschen in Deels herumgereicht. Und von Pferden. „Die Mongolei, das Land der wilden Pferde“, hatte sie gesagt. Das klang gut, fanden Angela und Veronika und meldeten sich zur Reise an. Kurz darauf besuchten sie mit der Redaktion eine Ausstellung über Dschingis Khan und trafen einen Hamburger Archäologen, der mit einem Team den Palast des mongolischen Eroberers in der Steppe ausgräbt.
Und da war noch etwas, es lag schon vier Jahrzehnte zurück: der Protest der Mongolen dagegen, dass eine Behinderung nach ihnen benannt worden war. Die Weltgesundheitsorganisation hatte den wissenschaftlich irreführenden Begriff „Mongolismus“ daraufhin zwar abgeschafft. Aber noch immer werden Menschen wie Angela Fritzen und Veronika Hammel von vielen „Mongölchen“ oder „Mongos“ genannt, und hin und wieder bezeichnen sie sich sogar selbst so.
Was also ist dran an diesen heiklen Wörtern, die sich so hartnäckig gehalten haben? Sind sie aus purer Willkür gewählt? Oder doch nicht? Gewissheit möchten die Frauen; auch deshalb wollen die beiden „unechten Mongolinnen“ aus Bonn endlich die „echten Mongolen“ der Steppe kennen lernen und darüber im „Ohrenkuss“ schreiben.
DIE NOMADIN IN DER JURTE hat keine Fragen gestellt. Ganz gleich, ob Angela und Veronika auf dem Schwarzmarkt einkaufen oder einen einsamen Hirten nach dem Weg fragen – niemand lacht, niemand starrt. Die beiden Frauen mögen dieses Land mit seinen Hügeln, die wie aus dunkelgrünem Schaumstoff geschnitten sind. Sie staunen über die Jurten, die ein Loch im Dach haben, damit die Mongolen besser atmen können – wie eine Kollegin vom „Ohrenkuss“ erklärt hat. Sie beobachten die Menschen, die eine Sprache sprechen, die nach Zauberformeln klingt. Und die immer wieder ihre Zelte, Öfen, Betten, Fernsehgeräte und Satellitenschüsseln auf Karren laden, um zu neuen Weide gründen aufzubrechen. Ein Dasein, das einer anderen Zeitrechnung zu folgen scheint und an das sich Angela und Veronika schnell gewöhnen.
Jeden Abend stellen auch sie ihre Zelte an einem anderen Ort auf. Und doch ist dieser Ort immer gleich: der Boden ein moosig grüner Teppich, in der Nähe ein Bach, ein flimmernder Sternenhimmel und eine Weite, so still, dass sie hören, wie die Pferde Gras zupfen und Heuschrecken gegen die Zeltwände springen.
Nach dem Essen und einer halben Flasche Dschingis-Khan-Bier hüpft, wie so oft, in ihrem Zelt noch ein Licht auf und ab. Angela hockt mit der Stirnlampe auf dem Schlafsack und schreibt: in akkurater Druckschrift über das arme Pferd, das fest gebunden ganz oben steht, und das Babj in die Jörtte. Veronika blättert im „Großstadtrevier“, dem Buch zur Fernsehserie.
„Eine Frage“, wispert Veronika. „Du arbeitest doch auch im Altenheim, oder?“
„Ja, seit drei Jahren.“
„Arbeitest du auch mittwochs?“
„Nein.“
„Gute Nacht.“
„Nacht, Vroni.“
Wenn die Sonne aufgeht, schiebt Ganbator, der Fahrer, eine Kassette mit mongolischen Schlagern in den Rekorder seines Busses. Mit seinem kahlen Schädel und den Lachfalten wirkt Ganbator wie eine magere Version Buddhas. Am liebsten hört er das Lied über die Grenzbeamtin mit den schönen Augen. Wenn Angela und Veronika traumverwirrt aus dem Zelt taumeln, singt Ganbator lauthals mit und tut so, als seien auch sie Zöllnerinnen aus mongolischen Liebesliedern. Unterwegs beobachtet Ganbator seine Fahrgäste im Rückspiegel. Wie Veronika Hammel und Angela Fritzen schlafen, eingekeilt zwischen dicken Taschen – und schon im nächsten Moment mit dem ganzen Körper lachen, während er seinen Bus wie eine Achterbahn über die Hügel schaukeln lässt. Manchmal spielt er dazu das Lied von der Grenzbeamtin. Dann trällern sie mit, ausdauernd und in immer der gleichen Tonlage. Sie sind zwar ein bisschen verrückt, sagt Ganbator, aber ehrlich und fröhlich. Das Gleiche denken Angela und Veronika über ihren Fahrer.
Für gewöhnlich brechen sie in den frühen Morgenstunden auf, dann ist es noch nicht so heiß. Sie fahren viele Stunden querfeldein. Keine Straßenschilder, keine Bäume, hier und da eine pilzförmige Jurte, oft nicht einmal Wege. Es ist ein Rätsel, wie Ganbator sich orientiert. Nur manchmal fragt er einen Reiter nach dem Weg, zeigt Fotos von Familien, die seine Reisegruppe besuchen will.
Am Nachmittag ist wieder Redaktionssitzung. „Angela, kannst du mir die Landschaft beschreiben? Was siehst du?“ „So Hü-hü-gel.“ Angela vergräbt den Kopf in ihren Händen. In den vergangenen Tagen sind ihr die Sätze immer ohne große Mühe über die Lippen gekommen. Sie hatte sogar einen Text über Dschingis Khan verfasst, ganz ohne Hilfe: Vor 800 Jahre hat er noch gelebt / Düchtigkeit Tapferkeit Warmherzlichkeit / Der größte Leistung: Vereinigung der Steppenvölker.
„Ihr müsst euch richtig Mühe geben“, sagt Katja immer. Die Chefredakteurin verändert nichts an ihren Texten. Aber nur die besten druckt sie ab. Angela weiß, ihre und Veronikas Reiseerlebnisse sind besonders wichtig für das „Ohrenkuss“-Heft zum Thema Mongolei, sie werden viel Platz einnehmen. Aber ausgerechnet nun haken die Wörter, sie sperren sich, als wagten sie sich nicht hinaus. Angela hockt auf dem Boden, niedergeschlagen von einer unsichtbaren Faust. In der Pause dringt leises Schluchzen aus ihrem Zelt. Es gibt diese Tage, an denen sich Angela Fritzen manchmal dumm, klein, ungelenk fühlt. Es passiert nicht oft. Aber nun ist es wieder so weit. Und sie drückt das Gesicht in den Schlafsack.
Vielleicht stimmt es ja, was die Leute sagen: dass diejenigen mit einem Chromosom zu viel auch als Erwachsene niemals klüger werden können als Kinder. Wenn doch das eine Chromosom nicht wäre, und sie verflucht es plötzlich, dann wäre sie nicht so langsam im Kopf, ihr Körper nicht so schwerfällig. Es wäre ein Leben ohne Gegenwind. Sie würde den Führerschein machen und eine Familie gründen. Ihr stünde nicht diese Augenoperation bevor. Grauer Star, haben die Ärzte gesagt. Sie könnte erblinden. Ihr wird übel, wenn sie daran denkt.
Veronika ist zu Angela gekrochen: ein lebender Seismograph, der Stimmungen erfühlt. Sie streicht über Angelas bebenden Rücken, bis er sich entspannt. Als Angela später erwacht, hat sich das Unwetter in ihrem Kopf verzogen. Der Himmel draußen ist blau, es duftet nach Wermut und wildem Schnittlauch. Immerhin: Sie reist durch die Mongolei, das Land der wilden Pferde! Sie hat das Geld für diese Reise selbst verdient, als Servicekraft im Altenheim; ein guter Job, die alten Leute brauchen ihre Hilfe. Immerhin gibt es auch den „Ohrenkuss“, und sie ist dort Kassenwart – eine ehrenvolle Aufgabe. Sie spielt sogar Saxofon und lernt Bogenschießen. Da sind auch die Eltern, die besten der Welt. Und sie hat einen Freund: Marc Lohmann, ebenfalls beim „Ohrenkuss“, er will sie heiraten, sagt er. Eine Kutsche mit Schimmeln, Angela im weißen Kleid, Marc im Anzug. Und Benji, sein Hund, ist auch dabei . . . Angela geht zu Ganbator. Kann nicht schaden, noch ein paar mongolische Zauberformeln zu lernen. Sajn bajna uu – Guten Tag. Bajrlalaa – danke.
NUN, WO DIE GRUPPE tagsüber reitet, bleibt Ganbator allein im Bus zurück. Er fährt voraus und wartet, liegt im Gras, raucht, hört Lieder oder schraubt am Bus. Mit Mühe hieven sich Angela und Veronika zum ersten Mal auf die Pferde. Ihre Stiefel zittern in den Steigbügeln, obwohl sie zu Hause seit Jahren zum Reitunterricht gehen. Mit rundem Rücken hängen sie im Sattel. Die Angst, die Hitze machen ihnen zu schaffen; Veronika bekommt Nasenbluten und muss ein Stück im Bus mitfahren. Doch eines Abends tauchen die beiden hinter einem Hügel auf und wippen im Takt der Pferde auf und ab, die Zügel straff in der Hand. Sie klatschen auf die Flanken, galoppieren das letzte Stück. Ganbator staunt. Angela singt: „Da steht ein Pferd auf’m Flur.“ Am Abend diktiert Veronika: Ein schönes Pferd läuft durch die Steppe. Das gibt’s viele schöne Berge. Ich reite durch das Fluss. Da gibt’s viele schöne Fohlen. Die läufen durch die schöne Landschaft.
Sie schlagen die Zelte am Ufer eines Stroms auf. Eine Brücke führt zu einem Dorf mit bunten Holzhütten: Orchon. Ganbator erzählt von einem Fest, Naadam, dem Höhepunkt des mongolischen Jahres. „Morgen werden die Nomaden nach Orchon reiten“, sagt er. „Sie werden sich im Ringkampf, Bogenschießen und beim Pferderennen messen, tanzen und feiern.“ Am nächsten Tag ein Bad im Fluss. Über der Siedlung flirrt die Luft. Das „Ohrenkuss“-Team ist spät dran. Angela biegt den Rückspiegel am Geländebus nach außen und betrachtet ihr Gesicht. Sie steckt die Haare hoch und schultert einen Bogen. Veronika hält die Pfeile. Sie tragen bodenlange Deels, die sie auf einem kleinen Markt gekauft haben. „Die Ehre sei mit uns“, ruft Angela und steigt in den Bus. „Katja“, flüstert Veronika, „vielleicht finden wir heute einen netten jungen Mann für mich.“
Auf dem Festplatz vibriert die Erde. Eine Horde Kinder auf Pferden sprengt mit Gebrüll an den Frauen vorüber und wirbelt Staubwolken auf. Eine Blaskapelle schickt einen schrägen Walzer in den makellos blauen Himmel. Angela und die anderen laufen am Holzzaun entlang, der um ein rundes Areal führt, vorbei an mit Wimpeln geschmückten Jurten, an Getränkeständen, in denen Airag, kühl und prickelnd, ausgeschenkt wird, vorbei an der Loge, in der der Bürgermeister thront, würdig mit Hut, umringt vom Ältestenrat des Dorfes. Vor ihm drei Porzellanschüsseln, gefüllt mit Käse- und Quarkbrocken, die er mit beiläufiger Geste in die Menge wirft. „Für den blauen Himmel, die Erde und das Volk“, dröhnt es aus den Lautsprechern.
Ringer tänzeln vorüber, Hünen, die sich vor dem Bürgermeister verbeugen. Sie tragen knappe Hosen, boleroartige Jacken und spitze Stiefel. Sie schlagen mit den Armen wie stolze Adler mit ihren Flügeln. Einer, der Sieger, greift sich eine Hand voll Käsestücke und verteilt sie in der Menge. Veronika fängt ein Stück. Es kommt in ihre Hosentasche. „Das bringt Glück“, ruft Ganbator.
Er hat ein Treffen arrangiert, er kennt zwei der Ringer. Der eine ist Ingenieur, der andere Sportlehrer. Beide spielen Basketball. „Wie ich“, sagt Angela. Veronika tauscht Adressen aus. „Kommt doch heute Abend zur Steppendisco vor die Schule“, sagt ein Junge, bevor er mit seinen Freunden verschwindet.
Angelas Herz klopft. Sie hat sich zum Wettkampf der Bogenschützen angemeldet, beim Bürgermeister persönlich, und es gibt kein Zurück. „Denk dran!“, ruft Katja, „du schießt für den ‚Ohrenkuss‘. Steh aufrecht wie eine Königin!“ „Bisschen mal still!“, schnarrt Angela. Alle starren. Sie legt den Pfeil in den Bogen, spannt die Sehne, richtet den Blick gen Himmel. Lässt los. Der Pfeil plumpst zu Boden. Noch einmal das Gleiche. „Halleluja!“, flucht Angela und will gehen. Aber da tritt eine Frau aus der Menge. Sonnenbrille, enges Seidenkleid, Pfeile im Gürtel wie eine Amazone. Stellt sich hinter Angela und biegt ihr den Rücken gerade. „Finde deine Balance. Richte deinen Blick fest auf das Ziel“, sagt sie. Angela nickt. Dann zeigt ihr die Amazone, wie Mongolen schießen: Sie halten den Pfeil links statt rechts vom Bogen. Das Ziel ist die Schnur mit den roten Fähnchen. Angela fokussiert. Der Pfeil zischt auf Mongolisch davon. Und landet kurz vor der 60-Meter-Marke. Angela verbeugt sich. Immer wieder. Das Publikum klatscht. Es ist ein bisschen wie bei den Lesungen.
AM ABEND: Steppendisco. Schnelle Rhythmen und Stroboskoplichter unterm Sternenhimmel. Vor der Tanzfläche die Silhouetten von Kindern auf Pferden. Motten flattern um die Scheinwerfer. Die Frauen tragen Stöckelschuhe. Die Männer trinken Joghurtschnaps. Veronika steht am Rand der Tanzfläche und blinzelt. Plötzlich ein Arm. Er zieht sie in die Menge. Ein Mongole im blauen Deel, mit schweren Reitstiefeln und breitkrempigem Hut, wirbelt sie herum. Tanzt mit ihr, dreht eine Pirouette nach der anderen. Vor, zurück, nach links, nach rechts. Sich wiegen im Takt. Veronika blickt auf, schaut in ein Gesicht mit weißen Zähnen, wird weiter und weiter gewirbelt. Die ganze Nacht hindurch.
Die Liebe ist der Stern, wird sie später in das „Logbuch der Mongolen“ schreiben.
Als die Gruppe im Geländebus durch die Dunkelheit zu ihrem Zeltplatz fährt, glüht Veronika. Sie hat ihre Arme um Katjas Hals geschlungen. Ganbator spielt das Lied von der Grenzbeamtin. Angela brummt leise mit, auf Fantasiemongolisch. „Die sind hier sehr nett“, sagt sie, die „Ohrenkuss“- Reporterin. „Aber wir sind einfach schöner.“